Der Jugendhilfeausschuss nimmt den Bericht zur Kenntnis.
Rechtsgrundlage:
SGB VIII
Sachdarstellung:
Der Bundesrat hat am 07.05.2021 dem Kinder-
und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) nach einem langen Dialogprozess zugestimmt.
Die Regelungen sind – mit Ausnahme der Regelungen der zweiten und dritten Stufe
der Inklusiven Lösung – mit der Verkündigung am 10.06.2021 in Kraft getreten.
Die zentralen Änderungen der fünf
Schwerpunktthemen des KJSG werden im Folgenden überblicksartig vorgestellt:[1]
1.
Verbesserter
Kinder- und Jugendschutz
- Die Anforderungen an die Erteilung einer Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung werden erhöht, die Aufsicht über Einrichtungen wird verbessert.
- Die Anforderungen an die Zulässigkeit von Auslandsmaßnahmen werden verschärft, die Kontrolle ihrer Einhaltung wird verbessert.
- Das Gesundheitswesen wird stärker in die Verantwortungsgemeinschaft für einen wirksamen Kinderschutz einbezogen.
- Ärztinnen bzw. Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe erhalten vom Jugendamt eine Rückmeldung über den weiteren Fortgang des Verfahrens der Gefährdungseinschätzung nach Meldung eines Verdachts auf Kindeswohlgefährdung.
- Das Zusammenwirken von Jugendamt und Jugendgericht, Familiengericht und Straf-verfolgungsbehörden im Kinderschutz wird verbessert.
2.
Stärkung von Kindern und
Jugendlichen, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe
aufwachsen
- Die Kostenbeteiligung von jungen Menschen bei vollstationären Leistungen wird auf höchstens 25 Prozent ihres Einkommens reduziert. Von der Kostenheranziehung junger Volljähriger aus dem Vermögen wird gänzlich abgesehen.
- Die Voraussetzungen der Hilfe für junge Volljährige werden präzisiert und der Verbind-lichkeitsgrad der Hilfegewährung erhöht.
- Junge Menschen, die in einer Einrichtung oder in einer Pflegefamilie aufgewachsen sind erhalten Unterstützung durch sog. „Careleaver“.
- Es wird klargestellt, dass eine Hilfe für junge Volljährige auch nach ihrer Beendigung wieder fortgeführt oder ggf. in anderer Form erneut gewährt werden kann, wenn ein entsprechender Bedarf auf Seiten des jungen Menschen dies erfordert.
- Die Regelungen zur Nachbetreuung von jungen Volljährigen nach Beendigung der Hilfe werden konkretisiert und verbindlicher ausgestaltet.
- Geschwisterbeziehungen wird bei der Aufstellung und Überprüfung des Hilfeplans sowie bei der Durchführung der Hilfe stärker Rechnung getragen.
- Zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege wird die Verpflichtung zur Anwendung von Schutzkonzepten bei Pflegeverhältnissen eingeführt.
- Eltern erhalten – unabhängig von der Personensorge – einen Rechtsanspruch auf Beratung und Unterstützung bei Hilfen außerhalb der eigenen Familie.
- Das Zusammenwirken von Eltern sowie Pflege- oder Erziehungsperson wird durch eine verbindlichere Unterstützung des Jugendamtes verbessert.
- Für die Finanzierung der Beratung und Unterstützung der Eltern und der Pflegeeltern werden verbindliche gesetzliche Vorgaben geschaffen.
- Mehr Stabilität und Kontinuität für Kinder und Jugendliche, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufwachsen.
- Neu geregelt ist in § 19 SGB VIII die Möglichkeit, mit Zustimmung des betreuten Elternteils auch den anderen Elternteil oder eine Person, die für das Kind tatsächlich sorgt, in die Leistung mit einzubeziehen.
3.
Hilfen aus einer Hand für Kinder mit
und ohne Behinderungen
- Die Zuständigkeiten für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen werden unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) zusammengeführt.
- Für den Prozess der Umsetzung ist ein Zeitraum von insgesamt sieben Jahren vorgesehen, der sich im Sinne eines Stufenmodells vollzieht.
Erste
Stufe:
Die erste Stufe sieht die Gestaltung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe und die Bereinigung der insbesondere zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe bestehenden Schnittstellen vor. Diese Regelungen sind unmittelbar am Tag nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft getreten.
Zweite
Stufe:
Die zweite Stufe sieht die Einführung der Funktion eines „Verfahrenslotsen“ im Jahr 2024 vor. Eltern bekommen somit einen verbindlichen Ansprechpartner und werden durch das gesamte Verfahren von einer einzigen Stelle begleitet, die ihre Rechte wahrnimmt.
Dritte
Stufe:
Die dritte Stufe sieht die Übernahme der vorrangigen Zuständigkeit des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe für Leistungen der Eingliederungshilfe auch an junge Menschen mit (drohenden) körperlichen oder geistigen Behinderungen im Jahr 2028 vor.
Voraussetzung hierfür ist die Verkündung eines Bundesgesetzes bis spätestens zum 1. Januar 2027.
· Dieses muss (mindestens) konkrete Regelungen zum leistungsberechtigten Personenkreis, zu Art und Umfang der Leistung und zur Kostenbeteiligung enthalten.
· Grundlage für die Ausgestaltung des Bundesgesetzes sollen die Ergebnisse einer prospektiven Gesetzesfolgenabschätzung und (wissenschaftlichen) Umsetzungsbegleitung sein.
4.
Mehr Prävention vor Ort
- Die Möglichkeiten der direkten Inanspruchnahme ambulanter Hilfen, d.h. ohne vorherige Antragstellung beim Jugendamt, werden explizit um Hilfen für Familien in Notsituationen erweitert.
- Hierzu werden die Leistungsinhalte der im SGB VIII bereits als Hilfe vorgesehenen „Betreuung und Versorgung von Kindern in Notsituationen“ modernisiert und in den Katalog der erzieherischen Hilfen aufgenommen.
- Kombination unterschiedlicher erzieherischer Hilfen.
- Modernisierung der Zielsetzung allgemeiner Familienförderung.
5. Mehr Beteiligung von
jungen Menschen, Eltern und Familien
- Kinder und Jugendliche erhalten einen uneingeschränkten Beratungsanspruch durch die Kinder- und Jugendhilfe.
- Verpflichtung zur Einrichtung unabhängiger Ombudsstellen.
- Zur besseren Wahrnehmung der Subjektstellung von Adressatinnen und Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe werden Selbstvertretung und Selbsthilfe deutlich gestärkt und entsprechende Zusammenschlüsse in Entscheidungsprozesse einbezogen.
- Externe Möglichkeit der Beschwerde für Kinder und Jugendliche in Einrichtungen.
- Gewährleistung von Möglichkeiten der Beschwerde für Pflegekinder.
- Klarstellung zur Beteiligung nichtsorgeberechtigter Eltern an der Hilfeplanung.
- Aufklärung des Kindes oder Jugendlichen und seiner Eltern bei der Inobhutnahme
- Adressatinnen und Adressaten müssen grundsätzlich in für sie verständlicher und nachvollziehbarer Form beraten, aufgeklärt und beteiligt werden. In Bezug auf Adressatinnen und Adressaten mit Behinderungen wird damit auch Artikel 21 der UN-Behindertenrechtskonvention Rechnung getragen.
Fazit:
Diese Gesetzesänderung bringt in kleinen aber auch in großen Bereichen weitreichende Veränderungen mit sich. Die weitreichendste Veränderung ist mit Sicherheit die Grundentscheidung für die sog. „Große Lösung“. Die Kinder- und Jugendhilfe wird für alle Kinder und Jugendlichen, ob mit oder ohne Behinderung – und unabhängig von der Form der Behinderung – zuständig. Es bleibt abzuwarten, ob die einheitliche Zuständigkeit, die als dritte Stufe vorgesehen und von einem noch zu schaffenden Bundesgesetz abhängig ist, tatsächlich umgesetzt wird.
Weitreichend ist
die Stärkung der Beteiligung und Selbstbestimmung der Kinder, Jugendlichen und
Eltern. Die zeitgemäße Weiterentwicklung des SGB VIII wird insbesondere an das
„in-den-Blick-nehmen“ der Schnittstellen deutlich.
Manche befürchten, dass die neuen Vorschriften im Kinderschutz die Dynamik zwischen den Akteurinnen und dem Kinderschutzsystem verändert. Im Zuge der Umsetzung des Gesetzes wird sich zeigen, ob sowohl sozialarbeiterische Hilfeprozesse wie den Aufbau einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zum besseren Fallverstehen weiterentwickelt als auch standardisierte Abläufe genutzt werden können, um letztendlich zu einem besseren Kinderschutz zu kommen.
Eines ist auch klar, die inklusive Ausgestaltung, Beratung, Beteiligung, Schnittstellenarbeit und der Kinderschutz erfordern Zeit sowie gut ausgebildetes und ausreichendes Personal.